Kinder
im Wunderstollen
von
Rudi Pistilli und Michael Kleinrensing
Kranke Ukrainer und Japaner hoffen auf Erdstrahlen
Schmallenberg.
Die achtjährige Tatjana und Anatol (9) tragen stolz ihre gelben Helme.
Sie halten sich an den Händen, lachen und folgen Stollenführer
Manfred Walzel durch einen kalten Gang zur Stollenmitte. Zusammen mit
den sieben anderen Kindern und Jugendlichen versammeln sie sich um den
Strahlungspunkt und lassen entspannt die Arme baumeln, um die Erdstrahlen
zu empfangen. Nach zwanzig Minuten ist das Ritual vorbei.
Schwarzes Gold
Seit drei Jahren marschieren Gäste aus Tschernobyl im Gänsemarsch
in die "Wunderhöhle", aus der einst das schwarze Gold des
Sauerlandes gewonnen wurde. Viele von Ihnen leiden, ausgelöst durch
das Reaktorunglück von 1986, an Leukämie oder Schilddrüsenerkrankungen
- und hoffen auf Heilung im Schieferstollen. Um den Heilungsgrad zu kontrollieren,
werden die Blutwerte der Kinder, die bei ihrer Abreise aus Kiew registriert
wurden, mit denen verglichen, die nach dem Aufenthalt in Nordenau ermittelt
wurden.
Deutsche und ukrainische Ärzte haben den Lebenssaft der kleinen Erdenbürger
nun wiederholt untersucht und kamen zu dem Ergebnis, dass der Aufenthalt
in der Höhle ihren Zustand wesentlich verbessert hat. Das behauptet
nicht nur Theo Tommes, der als Besitzer des Stollens und des nebenan befindlichen
80-Betten-Hotels vom Ansturm auf den Heilstollen profitiert. "Die
Kinder aus Tschernobyl bezahlen keine einzige Mark. Sie sind meine Gäste",
berichtet der 46jährige.
Mittlerweile sind auch zahlreiche Forscher den heilenden Erdstrahlen auf
der Spur. Der Mediziner Heinz Jürgen Steinbrück aus Frankfurt
hat die unterschiedlichen Reaktionen seiner Kollegen zusammengefaßt.
Er untersuchte über Jahre hinweg auch mehrere hundert Besucher des
Stollens und hielt seine Ergebnisse in einer Studie fest.
Nicht wenige Ärzte, die den Stollen bereits aufgesucht haben, mögen
nicht ausschließen, dass von den magnetischen Strahlen in dem Stollen
"positive Einflüsse" auf den menschlichen Organismus ausgehen
können. Christian Hussels, Arzt für Allgemeinmedizin in Dorlar,
der sich um eine qualifizierte Betreuung der Tschernobyl-Kinder bemüht:
"Inwieweit derartige naturwissenschaftliche Phänomene Wirkung
auf biologische Körper ausüben, ist noch weitgehend unerforscht."
An einen Placebo-Effekt in der Nordenau-Höhle glaubt er allerdings
nicht.
Lebensrettendes Ritual
"Im Nordenauer Schieferstollen erleben wir mehr Wunder als die Kirche",
lautet das Fazit von Ludmilla Prilebskaya. Die Ärztin aus der Ukraine,
die sich in Nordenau mit der Frage der "medizinisch nicht erklärbaren
Heilung" befaßt, und die bereits mit Wissenschaftlern über
das geologische Phänomen gesprochen hat, ist sicher: "Die magnetischen
Erdstrahlen im Schieferstollen haben bereits ein Dutzend Kindern aus meiner
Heimat."
Zur Zeit weilen auf Einladung der Hilfsvereinigung "SOS 86 - Kinder
von Tschernobyl Sauerland" neun ukrainische Kinder und Jugendliche
im Alter zwischen 8 und 19 Jahren zusammen mit ihrer Betreuerin im Hotel
Tommes und besuchen regelmäßig den Heilstollen. Unterstützt
von einer japanischen Hilfsorganisation.
Seit sich die Blutwerte mehrerer Tschernobyl-Kinder, die in dem Nordenauer
Strahlenstollen waren, gebessert haben, interessieren sich die Japaner
für den geheimnisvollen Ort im Herzen des Sauerlands, der im Kaiserland
durch das japanische Fernsehen bekannt wurde. Nun soll das asiatische
Pilotprojekt weiteren kranken Kindern aus der Ukraine helfen.
Seltsamer Weinkeller
Erst in der letzten Woche reiste der japanische Leiter des Projekts wieder
nach Tokio. In seinem Reisegepäck befanden sich außer einer
neuen Studie auch zwei Weinflaschen aus dem ehemals seltsamsten Weinkeller
Europas: Bis Ende 1991 diente der Heilstollen Hotelier Theo Tommes als
Lagerungsort für seinen Rebensaft. Im Sommer und im Winter beträgt
dort die Temperatur kontinuierlich 6,5 Grad.
Am Boden des geheimnisvollen Ortes plätschert kristallklares Wasser.
Tatjana trinkt wie in Trance das von den Erdstrahlen durchdrungene Elixier,
das rechtsdrehend abfließt, obwohl jedes Wasser auf der nördlichen
Erdhalbkugel linksdrehend der Schwerkraft folgt.
Quelle: Westfalenpost vom 23.07.1996
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von © Westfalenpost
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